(VLT02)   –   [DE]     Österreichischer Vorlesetag   

 

Franz Kafka: Der Fürsprecher

 

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Es war sehr unsicher, ob ich Fürsprecher hatte,
ich konnte nichts Genaues darüber erfahren,

alle Gesichter waren abweisend,

die meisten Leute, die mir entgegenkamen, und die ich wieder und wieder auf den Gängen traf, sahen wie alte dicke Frauen aus,

sie hatten große, den ganzen Körper bedeckende,
dunkelblau und weiß gestreifte Schürzen,

strichen sich den Bauch und
drehten sich schwerfällig hin und her.

Ich konnte nicht einmal erfahren, ob wir in einem Gerichtsgebäude waren.

Manches sprach dafür, vieles dagegen.

Über alle Einzelheiten hinweg erinnerte mich am meisten
an ein Gericht –
ein Dröhnen, das unaufhörlich aus der Ferne zu hören war,

man konnte nicht sagen, aus welcher Richtung es kam,
es erfüllte so sehr alle Räume,

daß man annehmen konnte, es komme von überall

oder, was noch richtiger schien, gerade der Ort, wo man zufällig stand, sei der eigentliche Ort dieses Dröhnens,

aber gewiß war das eine Täuschung, denn es kam aus der Ferne.

Diese Gänge, schmal, einfach überwölbt, in langsamen Wendungen geführt,

mit sparsam geschmückten hohen Türen,
schienen sogar für tiefe Stille geschaffen,

es waren die Gänge eines Museums oder einer Bibliothek.

Wenn es aber kein Gericht war,
warum forschte ich dann hier nach einem Fürsprecher?

Weil ich überall einen Fürsprecher suchte, überall ist er nötig,

ja man braucht ihn weniger bei Gericht als anderswo,

denn das Gericht spricht sein Urteil nach dem Gesetz,

sollte man annehmen.

Sollte man annehmen, daß es hiebei ungerecht oder leichtfertig vorgehe, wäre ja kein Leben möglich,

man muß zum Gericht das Zutrauen haben,
daß es der Majestät des Gesetzes freien Raum gibt,
denn das ist seine einzige Aufgabe,

im Gesetz selbst aber ist alles Anklage, Fürspruch und Urteil,

das selbständige Sicheinmischen eines Menschen hier wäre Frevel.

Anders aber verhält es sich mit dem Tatbestand eines Urteils,

dieser gründet sich auf Erhebungen
hier und dort,
bei Verwandten und Fremden,
bei Freunden und Feinden,
in der Familie und in der Öffentlichkeit,
in Stadt und Dorf,

kurz überall.

Hier ist es dringend nötig, Fürsprecher zu haben,

Fürsprecher in Mengen, die besten Fürsprecher,

einen eng neben dem andern, eine lebende Mauer,

denn die Fürsprecher sind ihrer Natur nach schwer beweglich,

die Ankläger aber,
diese schlauen Füchse,
diese flinken Wiesel,
diese unsichtbaren Mäuschen,
schlüpfen durch die kleinsten Lücken,
huschen zwischen den Beinen der Fürsprecher durch.

Also Achtung!

Deshalb bin ich ja hier, ich sammle Fürsprecher.

Aber ich habe noch keinen gefunden,

nur die alten Frauen kommen und gehen,
immer wieder;

wäre ich nicht auf der Suche, es würde mich einschläfern.

Ich bin nicht am richtigen Ort,

leider kann ich mich dem Eindruck nicht verschließen,
daß ich nicht am richtigen Ort bin.

Ich müßte an einem Ort sein,
wo vielerlei Menschen zusammenkommen,
aus verschiedenen Gegenden,
aus allen Ständen,
aus allen Berufen,
verschiedenen Alters,

ich müßte die Möglichkeit haben,
die Tauglichen, die Freundlichen,
die, welche einen Blick für mich haben,
vorsichtig auszuwählen aus einer Menge.

Am besten wäre dazu vielleicht ein großer Jahrmarkt geeignet.

Statt dessen treibe ich mich auf diesen Gängen umher,
wo nur diese alten Frauen zu sehen sind,
und auch von ihnen nicht viele,
und immerfort die gleichen

und selbst diese wenigen,
trotz ihrer Langsamkeit, lassen sich von mir nicht stellen,
entgleiten mir,
schweben wie Regenwolken,
sind von unbekannten Beschäftigungen ganz in Anspruch genommen.

Warum eile ich denn blindlings in ein Haus,
lese nicht die Aufschrift über dem Tor,
bin gleich auf den Gängen,
setze mich hier mit solcher Verbohrtheit fest,
daß ich mich gar nicht erinnern kann,
jemals vor dem Haus gewesen,
jemals die Treppen hinaufgelaufen zu sein.

Zurück aber darf ich nicht,
diese Zeitversäumnis,
dieses Eingestehen eines Irrwegs
wäre mir unerträglich.

Wie?

In diesem kurzen, eiligen,
von einem ungeduldigen Dröhnen begleiteten Leben
eine Treppe hinunterlaufen?

Das ist unmöglich.

Die dir zugemessene Zeit ist so kurz,
daß du, wenn du eine Sekunde verlierst,
schon dein ganzes Leben verloren hast,

denn es ist nicht länger,
es ist immer nur so lang,
wie die Zeit, die du verlierst.

Hast du also einen Weg begonnen,
setze ihn fort, unter allen Umständen,

du kannst nur gewinnen,

du läufst keine Gefahr,
vielleicht wirst du am Ende abstürzen,

hättest du aber schon nach den ersten Schritten
dich zurückgewendet
und wärest die Treppe hinuntergelaufen,
wärst du gleich am Anfang abgestürzt
und nicht vielleicht,
sondern ganz gewiß.

Findest du also nichts hier auf den Gängen,
öffne die Türen,
findest du nichts hinter diesen Türen,
gibt es neue Stockwerke,

findest du oben nichts,
es ist keine Not,
schwinge dich neue Treppen hinauf.

Solange du nicht zu steigen aufhörst,
hören die Stufen nicht auf,

unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.

Prosastück von Franz Kafka, entstanden vermutlich 1922.

Ein Monolog schildert die Schwierigkeit und die Notwendigkeit der Suche nach Fürsprechern unter Verwendung der für Kafka typischen Rechtsmetaphern.