(VLT01) – [DE] Österreichischer Vorlesetag 2024
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Franz Kafka: Der Nachbar |
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Höre dir den Text an (MP3) |
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Mein Geschäft ruht ganz auf meinen Schultern. Zwei Fräulein mit Schreibmaschinen und
Geschäftsbüchern im Vorzimmer, das ist mein ganzer Arbeitsapparat. |
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So einfach zu überblicken, so leicht zu führen. Ich bin ganz jung und die Geschäfte rollen vor mir her. Ich klage nicht, ich klage nicht. |
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Seit Neujahr hat ein junger Mann die
kleine, leerstehende Nebenwohnung, frischweg gemietet. |
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Auch ein Zimmer mit Vorzimmer, Zimmer und Vorzimmer hätte ich wohl
brauchen können - Dieses kleinliche Bedenken war daran
schuld, |
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Nun sitzt dort dieser junge Mann. Harras heißt er. Was er dort eigentlich macht, weiß ich nicht. Auf der Tür steht: »Harras, Bureau«. |
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Ich habe Erkundigungen eingezogen, man
hat mir mitgeteilt, Vor Kreditgewährung könne man nicht
geradezu warnen, Die übliche Auskunft, die man gibt, wenn man nichts weiß. |
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Manchmal treffe ich Harras auf der Treppe, Genau gesehen habe ich ihn noch gar
nicht, Im Augenblick hat er die Tür geöffnet. |
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Wie der Schwanz einer Ratte ist er
hineingeglitten |
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Die elend dünnen Wände, Mein Telefon ist an der Zimmerwand
angebracht, Doch hebe ich das bloß als besonders ironische Tatsache hervor. Selbst wenn es an der entgegengesetzten
Wand hinge, |
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Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telefon zu nennen. Aber es gehört natürlich nicht viel
Schlauheit dazu, |
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Manchmal umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat und kann es doch nicht verhüten, dass Geheimnisse preisgegeben werden. Natürlich werden dadurch auch meine geschäftlichen Entscheidungen unsicher, meine Stimme zittrig. |
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Was macht Harras, während ich telefoniere? Wollte ich sehr übertreiben - |
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Harras braucht kein Telefon, er benutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gerückt und horcht, ich dagegen muss zum Telefon laufen, |
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Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gesprächs ab, sondern erhebt sich nach der Gesprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat, huscht nach seiner Gewohnheit durch die Stadt und, ehe ich die Hörmuschel aufgehängt habe, ist er vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten. |
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Erzählung aus dem Nachlass von Franz Kafka. Textfragment, um 1917 Die Geschichte Der Nachbar, die Merkmale einer Kurzgeschichte aufweist, handelt von einem jungen, sich anfangs selbstsicher gebenden Inhaber einer kleinen Firma, der sich durch seinen neuen Nachbarn Harras bedroht fühlt. Genese von Vorurteil und Verfolgungswahn. |
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František Kafka, 1883 Prag – 1924 Kierling, deutschsprachiger Schriftsteller. Hauptwerk: drei Romanfragmenten (Der Process, Das Schloss und Der Verschollene) zahlreiche Erzählungen. „kafkaesk“ Kanon der Weltliteratur |
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Der Process Der Bankprokurist Josef K., der Protagonist des Romans, wird am Morgen seines 30. Geburtstages verhaftet, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Trotz seiner Festnahme darf sich K. noch frei bewegen und weiter seiner Arbeit nachgehen. Vergeblich versucht er herauszufinden, weshalb er angeklagt wurde und wie er sich verteidigen könnte. Dabei stößt er auf ein für ihn nicht greifbares Gericht, dessen Kanzleien sich auf den Dachböden großer ärmlicher Mietskasernen befinden. Die Frauen, die mit der Gerichtswelt in Verbindung stehen und die K. als „Helferinnen“ zu werben versucht, üben eine erotische Anziehungskraft auf ihn aus. |
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Das Schloss schildert den vergeblichen Kampf des Landvermessers K. um Anerkennung seiner beruflichen und privaten Existenz durch ein geheimnisvolles Schloss und dessen Vertreter. |
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Der Verschollene Der siebzehnjährige[1] Karl Roßmann wird von seinen Eltern in die USA geschickt, da er von einem Dienstmädchen „verführt“ wurde und dieses nun ein Kind von ihm bekommen hat. Im Hafen von New York angekommen, trifft er noch auf dem Schiff einen reichen Onkel, der ihn zu sich nimmt und von dessen Reichtum Karl nun lebt. Doch bald verstößt der Onkel den Jungen, als Karl die Einladung eines Geschäftsfreundes des Onkels zu einem Landhausbesuch eigenmächtig annimmt. Der ohne Aussprache vom Onkel auf die Straße gesetzte Karl lernt zwei Landstreicher kennen, einen Franzosen und einen Iren, die sich seiner annehmen, freilich immer zum Nachteil von Karl. Wegen des Iren verliert er eine Anstellung als Liftjunge in einem riesigen Hotel mit bedrückenden Arbeitsbedingungen. Anschließend wird er in einer Wohnung, die die beiden Landstreicher mit der dickeren älteren Sängerin Brunelda teilen, gegen seinen Willen als Diener angestellt und ausgenutzt. |